Nazis raus aus der Volksgemeinschaft
Wie Marburger Linke "unsere Städte" vor "Burschis"
schützen
Weidenhausen ist ein schöner Stadtteil. Hier gibt es keinen
Großstadtlärm, sondern hübsche Fachwerkhäuser,
Kopfsteinpflaster und bunte Läden - ein Idyll, in dem
grün-alternative Freaks mit der angestammten Bevölkerung auf Du
und Du sind. Hier gibt es noch richtige Nachbarschaft: jeder
hilft jedem, man hält zusammen, egal was kommt. Darauf sind die
Weidenhäuser stolz. Das muß gefeiert werden, und deshalb gibt
es die "Weidenhäuser Aktionsgemeinschaft" - laut Marbuch-Verlag
"ein sehr engagiertes Völkchen", das es sich nicht nehmen läßt,
einmal in Jahr "den eh schon schmucken Stadtteil zu befeiern"(1). Das Weidenhäuser
Straßenfest ist ein buntes Treiben. Jede Kultur kommt zu Wort,
jedes Volk darf seinen Beitrag leisten, besonders natürlich der
Stamm der Marburger. Denn hier hat man noch Respekt vor Heimat
und naturwüchsigen Sitten. Selbstverständlich nicht nur vor den
deutschen - in Weidenhausen geht es ganz multikulturell zu.
Deshalb ist die Weidenhäuser Straße im Sommer immer mit vielen
Fähnchen geschmückt.
Eine Palästinafahne weht vor dem Fleischerladen von Franz
Becker, dem Helden der Weidenhäuser Dorfgemeinschaft. Er hat
mutig ausgesprochen, was auch andere Weidenhäuser denken: daß
die Gründung Israels ein "Verbrechen" sei, daß "die Juden" von
Hitler "viel gelernt" hätten und daß eine "zionistisch-jüdische
Pressedominanz", kontrolliert durch den "Einfluss jüdischen
Finanzkapitals in den USA", die wahrheitsgemäße
Berichterstattung über Israel verhindere. Auch über Bush weiß
Becker bescheid: er sei "offensichtlich durchgeknallt",
"blutgierig" und ein "Kriegsverbrecher". Als Becker wegen
dieser Äußerungen Ärger mit Polizei und Justiz bekam, bewährte
sich der Zusammenhalt der Weidenhäuser Nachbarschaft: die ganze
Bande stellte sich geschlossen hinter ihn. Friedensgruppen,
Parteien, die Humanistische Union und das Stadtparlament
forderten daraufhin: "Meinungsfreiheit für Franz Becker". Stolz
auf die Publicity, hat der Metzger einige der
Solidaritätserklärungen in seinem Laden ausgehängt. Darunter
die des Romanistikprofessors Hermann Hofer, der sich selbst
gern als Aufklärer sieht. Sie ist an der Tür der Metzgerei
angebracht: ein Ehrenplatz für den liberalen Verteidiger der
Meinungsfreiheit eines Antisemiten(2).
Nicht jeder in Marburg solidarisiert sich bedingungslos mit
Becker. Manche haben auch Vorbehalte. In Sputnik, der
Zeitschrift der Linken Fachschaft 03, heißt es, wer dem Staat
Israel Nazimethoden vorwerfe, wie Becker es tut, "verabschiedet
sich von jeglicher zulässiger Kritik an Israel"(3). Mit anderen Worten: Becker will
eigentlich dasselbe wie wir, geht aber einen Schritt zu weit.
Oder geht er vielleicht noch nicht weit genug? Beckers Pöbelei
gegen die USA, heißt es in demselben Artikel, tauge nichts,
weil sie sich "in Verschwörungstheorien erschöpft". Keine Spur
von Erschöpfung dagegen bei der Besatzung des Sputnik,
die durchhält bis zum Schluß: das angedrehte Entsetzen über
"das kriegsbedingte Morden" und die "Skrupellosigkeit", mit der
die Regierungen der am Irakkrieg beteiligten Staaten "zig
Tausende zum Tod verurteilen"(4), ist wirklich professionell und könnte aus der
TAZ abgeschrieben sein. Daß Becker einige seiner Sprüche
nicht mehr zeigen darf, wird im Sputnik ganz ähnlich
kommentiert wie auf den Zetteln, die in seiner Metzgerei
aufgehängt sind: "Dass kritische Äußerungen kriminalisiert und
verfolgt werden, ist Alltag in Deutschland"(5). Nicht ohne Grund fürchtet der Autor,
"mit gemeint" zu sein, wenn Beckers Dämonisierung des
US-Präsidenten zensiert wird.
So denkt man in Marburg, wenn man sich auf der ganz anderen,
besseren Seite wähnt. Das tun einige, und zusammengenommen
bilden sie die Marburger Linke. Diese verfügt ebenfalls
über eine Aktionsgemeinschaft, die es sich nicht nehmen läßt,
einmal im Jahr zu zeigen, was sie kann. Sie nennt sich die
Antifa. Ihre Hauptbeschäftigung besteht darin, sich auf das
große Spektakel vorzubereiten, das jedes Jahr im Juli
stattfindet: die traditionelle Kampagne gegen den
Marktfrühschoppen, "das kürzeste Volksfest Deutschlands", das
zwei Wochen nach dem Weidenhäuser Straßenfest auf dem
Marktplatz stattfindet.
Warum mußte es immer der Marktfrühschoppen sein? Warum kam
niemand auf die Idee, einmal gegen das Weidenhäuser
Straßenfest, das Ketzerbachfest, Drei Tage Marburg oder
ähnliche Manifestationen völkischer Gesinnung zu demonstrieren?
Man fragte sich das früher manchmal. Diese Fragen setzten
voraus, daß es bei den Kundgebungen gegen den Marktfrühschoppen
darum ging, ein besonders widerliches Volksfest zu sabotieren,
bei dem sich Marburger Bürger und Korporationen zusammenfinden,
um auf Marburg, Deutschland und die gute alte Zeit anzustoßen.
Ein Irrtum, den die Vorbereitungsgruppe der diesjährigen
Kundgebungen endgültig ausräumt. Sie will dem völkischen Mob,
der sich selbst auf dem Marktplatz abfeiert, indem er zusammen
mit den Korporierten, deren Ansichten er teilt, "Die Gedanken
sind frei" grölt, nicht den Spaß verderben. Sie will ihn
gewinnen - gegen die Korporierten.
"No Burschis in unseren Städten", fordern die
OrganisatorInnen der diesjährigen Kampagne(6). Marburg ist also unsere Stadt.
Und die deutschen Städte sind unsere Städte. Wir
alle sind eine Gemeinschaft. Nur die "Burschis" gehören nicht
dazu. Schließlich müssen wir unsere Städte rein
halten, rein von schmutzigen, fremden Elementen. Marburg den
Marburgern. Nazis raus aus der Volksgemeinschaft. So rumort es
im Hirn der engagierten Linken. Dazu passend hat die
Merchandising-Abteilung der Antifa ein abscheuliches
Logo entworfen: einen durchgestrichenen Korporiertenkopf. Sogar
ein Lied hat jemand gedichtet: den "Marktplatz-Song", zur
Melodie des "Rauchhaussongs" von "Ton Steine Scherben". Der
Refrain geht so: "Und die Menschen in der ganzen Stadt riefen:
'Wir haben Euch so satt! Das ist unsere Stadt - und korporierte
Männerbünde ham hier keinen Platz!" Das barbarische Fazit der
ganzen Veranstaltung, ebenfalls aus dem "Marktplatz-Song":
"Drum den Marktplatz den Menschen und die Burschies in die
Lahn!" Hinein in das reinigende Wasser. Denn Korporierte sind
keine Menschen.
Schon früher ging es bei den Protesten gegen den
Marktfrühschoppen weniger darum, die deutschtümelnde
Festgemeinschaft anzugreifen, als darum, zusammen mit den
"Marburger Bürgern" eine neue Gemeinschaft zu stiften, die sich
durch ein unkonventionelles Feindobjekt, eben die liebevoll
"Burschis" genannten Korporierten, definiert. Nicht nur der
"Antifaschistische Ratschlag" träumte davon, den
Marktfrühschoppen "zu einem Fest aller Studierenden und nicht
nur einer anachronistischen Minderheit zu machen"(7). Statt sich zu fragen, was es
denn überhaupt zu feiern gibt, berichteten Antifas in einem
Flugblatt von 2000 stolz, daß sie "gleich anboten, den
freiwerdenden Termin am ersten Juliwochenende mit einem
größeren Freudenfest auf dem Marktplatz neu zu füllen. Nach so
vielen Jahren Feierei der 'Marburger Bürger mit ihren
Studenten' wäre ein Fest aller Studierenden mit den
Marburger Bürgerinnen und Bürgern sicherlich mal wohltuend
gewesen."(8) Also mit
wirklich allen will die Marburger Szene feiern. "Ein
Fest für alle" fordert auch die Zeitschrift Kulturbeben
von der Stadt(9). Woher
kommt bloß das Bedürfnis, mit jedem Marburger zu feiern? Worin
unterscheiden sich diese Vorschläge eigentlich von denen der
Stadtteilgemeinschaften, die alle im Marktfrühschoppenverein
organisiert sind und sich unter dem Motto "Marburger Bürger
halten zusammen", welche Überraschung, "voll hinter die
Veranstaltung" gestellt haben(10)? Es ist nicht ganz abwegig, wenn sich Erhard
Dettmering vom "Marktfrühschoppenverein" fragt, was die Gegner
des Festes eigentlich wollen: Es handle sich beim
Marktfrühschoppen doch um ein Fest für alle Marburger(11).
Ein anderes, bunteres Fest müsse es schon sein,
findet die Marburger Linke. Deshalb organisiert sie
jedes Jahr ein sogenanntes Gegenfest, das dem Weidenhäuser
Straßenfest ziemlich ähnlich sieht und meistens vor dem CG
stattfindet. Damit beweist sie ganz praktisch, daß sie nichts
gegen Volksfeste hat, sondern ihnen nur ein weiteres hinzufügen
will. Im Unterschied zur Weidenhäuser Aktionsgemeinschaft
"befeiert" sie allerdings keinen Stadtteil, sondern eine
Subkultur: wir alle sind irgendwie links, lautet die
Botschaft, wir wollen doch eigentlich das gleiche, wir gehören
zusammen, und deshalb müssen wir nett zueinander sein.
Spielverderber, die "gegen Linke hetzen" und "alle
erfolgreicheren linken Projekte des letzten Jahres"
runtermachen (Indymedia-Beitrag zu der von uns herausgegebenen
Broschüre "Intifada an der Uni"), sind natürlich nicht
vorgesehen. Worin die Gemeinsamkeiten bestehen, wüßte man schon
gerne, aber konkrete Auskünfte darüber unterbleiben. Sie würden
nur zum Streit führen, den man ja gerade vermeiden wollte.
Deshalb begnügen sich die VeranstalterInnen mit der
Aneinanderreihung von Schlagwörtern: "Nationalismus, Sexismus,
Rassismus & Eliten müssen weg!" Wie hohl diese Parole ist,
zeigen nicht zuletzt die Auseinandersetzungen im CG, das sich
zu einer ähnlichen Schlagwortkette ("antifaschistisch,
antisexistisch, internationalistisch") bekennt: der Begriff des
Rassismus ist dort von einigen auf ein bloßes Schlagwort
reduziert worden, das dann prima dazu taugt, Kritik an
sexistischem Verhalten und antizionistischen Äußerungen
abzubügeln. Was an den Korporationen ansonsten noch mißfällt -
Karriere, Verbindungen, Männer- und Lebensbund, Erziehung zum
autoritären Charakter - wird von der linken Szene, die sich ja
auch gerne als "Zusammenhang", ergo als Verbindungswesen
begreift, ebenso praktiziert, nur meist erfolgloser.
Die Ideologie der Korporationen zu kritisieren, statt sie
auf ein Schlagwort zu bringen, das dann abgelehnt werden kann,
ohne sich wirklich damit zu befassen - das kann die
Marburger Linke auch schon deshalb nicht, weil sie auf
die Kumpanei mit den anständigen Marburgern setzt, die ähnlich
denken wie die Korporierten. Je weniger sie auf den völkischen
Mob kommen läßt, desto mehr werden die Korporierten zum
existentiellen Feind erklärt. Die Klage darüber, daß die
"Marburger Bürger" lieber zum Marktfrühschoppen gehen, als zum
"Gegenfest" zu kommen, ist mittlerweile der Behauptung
gewichen, der Marktfrühschoppen habe keinen Volksfestcharakter
mehr. "Der Großteil der sogenannten Normalbevölkerung" lasse
sich inzwischen "von der öffentlichen Verbrüderung mit
Burschenschaften und Konsorten abhalten"(12). Gibt es da überhaupt noch etwas zu tun für
die Antifa? Aber hallo! "Dennoch gibt es für
AntifaschistInnen noch alle Hände voll zu tun: Der
Marktfrühschoppen findet immer noch statt, die Korporationen
sind immer noch nicht aufgelöst, ihre Häuser stehen immer noch,
und die Verbindungen zu den lokalen und überregionalen Eliten
sind stabil wie eh und je"(13).
Wie ignorant muß man sein, um so zu reden? Ginge es
denjenigen, die diese Sätze geschrieben haben, im Ernst um
Antifaschismus, müßte ihnen das Grausen kommen, wenn sie sich
nur ein wenig umblickten. Wo man auch hinguckt - überall
scheint Weidenhausen zu sein. Seit der Vereinbarung der
"Roadmap" kocht es wieder gegen Israel hoch. Die als liberal
geltende SZ - um nur einmal ein Beispiel herauszugreifen
- schwadroniert, "die völkerrechtswidrige Besatzung von
Westjordanland und Gazastreifen" sei ein "Haupthindernis für
den Frieden". Natürlich weiß der Redakteur, daß die
palästinensischen Massenorganisationen eben erst wieder ihre
Absicht, Israel zu zerstören, bekräftigt haben. Die SZ
macht keinen Hehl aus ihren Ressentiments gegen die jüdischen
Siedler: diese "leben komfortabel" und "werden von Israel aus
großzügig mit allem versorgt, was sie zum Leben brauchen".
Ihnen "fehlt es in ihren Städten und Dörfern an fast nichts,
kaum ein Wunsch bleibt offen", glaubt die SZ, und dafür
haßt sie sie. Reich, glücklich, böse: so stellt man sich
hierzulande die Juden vor. Weil Israel Straßensperren
errichtet, um Selbstmordbomber abzufangen - 80% der geplanten
Attentate werden dadurch vereitelt - behauptet die SZ,
daß die Palästinenser von den Israelis "als Menschen zweiter
Klasse angesehen werden". Selbst die Schuld daran, daß die
meisten der 110 000 Palästinenser, die früher in Israel
arbeiteten, wegen der Abriegelungen seit dem Beginn der
"Intifada" arbeitslos sind, wird Israel in die Schuhe
geschoben, weil Israel halt an allem schuld ist.(14)
Reich, glücklich, böse - das ist für den deutschen
Stammtisch auch Michel Friedman, der spätestens, seit es über
ihn heißt, er habe Kokain geschnupft und mit Prostituierten
Sexorgien gefeiert, allgemein gehaßt und beneidet wird. Hatte
man Friedman schon früher übelgenommen, daß er die unter
deutschen Journalisten übliche Unterwürfigkeit gegenüber den
Interviewten vermissen ließ, freut der Mob sich jetzt darüber,
daß er seine Lustfeindschaft an ihm austoben kann. Mit
lüsternem Schauer lauscht die ganze Nation den Stories über
Friedmans sexuelle Verworfenheit. Leserbriefschreiberinnen in
der TAZ drohen mit einer neuen Debatte, in der Friedman
allen Ernstes für Erpressung und Menschenhandel im
Rotlichtmilieu verantwortlich gemacht werden soll. Das
totgeglaubte Klischee vom legeren, mondänen, arroganten,
sexbesessenen Juden, der unschuldige Mädchen benutzt, erweist
sich als quicklebendig.
Bedarf es noch weiterer Beispiele? Wer wissen möchte, was
die Stiefelnazis so treiben, sollte sich mal die Transparente
anschauen, die sie auf ihren Demonstrationen mitschleppen. Am
1. Mai in Berlin war darauf folgendes zu lesen:
"Für Frieden und freie Völker - gegen
Globalisierungskriege!"
"Boykott den Kriegstreibern! Kauft keine US-Waren! NPD - Die
Nationalen"
"Solidarität - Fränkische Aktionsfront" (mit den Flaggen des
deutschen Kaiserreichs und Palästinas)
"Stoppt die Kriegstreiber USA und Israel - Solidarität mit
Palästina - Nationales Aktionsbündnis
Oberlausitz/Niederschlesien" (mit den Flaggen des deutschen
Kaiserreichs und Palästinas)
"Kapitalismus zerschlagen! Autonomen Widerstand
organisieren! Autonome Nationalisten"
"Für die Verwirklichung der Menschenrechte und
Selbstbestimmung aller Völker! NPD - Partei des Friedens und
der Völkerfreundschaft"
|
Kommt einem das nicht irgendwoher bekannt vor? Daß sich die
Nazis auf den Demonstrationen der Friedensbewegung so wohl
fühlten, ist kein Wunder: ihre Parolen sind dieselben.
Wenn ein Antisemit von allen Seiten Zuspruch erhält,
Faschisten auf linken Demonstrationen nicht mehr auffallen, die
liberale Presse so schreibt wie die Deutsche
Nationalzeitung und ein Jude, der mit Prostituierten
gekokst haben soll, den Gesprächsstoff abgibt, dann ist zu
befürchten, daß für den Faschismus große Zeiten anbrechen.
Derweil haben die Antifas alle Hände voll zu tun mit den
Korporierten, deren Häuser immer noch stehen. So leistet jeder
seinen kleinen Beitrag dazu, daß die Welt vor die Hunde
geht.
Aus unserer Reihe: Wir stellen Marburger Projekte vor
Die "Gruppe Dissident"
Die "Gruppe dissident", eine der eifrigsten Agitatorinnen
gegen den Marktfrühschoppen, jubelte im Juni 2001, "auch die
Marburger SPD" habe sich eindeutig gegen die Deutsche
Burschenschaft gestellt, als diese in der Stadthalle tagte.
"Lediglich Oberbürgermeister Dietrich Möller mit samt [sic]
seiner CDU gehören noch zu den ewig Gestrigen, die sich nicht
vom braunen Rand der bundesdeutschen Gesellschaft abgrenzen
wollen"(15). Stolz darauf,
mit dem Strom zu schwimmen, hofft die "Gruppe dissident", schon
bald dafür belohnt zu werden - nämlich wenn die ewig Gestrigen
verschwunden sind, was ja nicht mehr lange dauern kann. Schade
nur, daß die SPD noch nicht so ganz mitspielen will: "auch die
SPD kann sich nicht zu einer klar ablehnenden Haltung gegenüber
dem Marktfrühschoppen durchringen". Ein Jahr später war der
große Augenblick da: die Sozialdemokraten reihten sich in die
Demonstration gegen den Marktfrühschoppen ein. Doch mit der SPD
hadert die "Gruppe dissident" noch immer. Im Januar 2003
beschwerte sie sich bei der Regierungsjugend: "Wir kommen, um
uns zu beschweren"(16).
Nämlich darüber, daß sich Jusos und Grüne im Januar 2003 "ohne
Not gegen einen linken AStA entschieden haben", obwohl dieser
doch "ohne unüberwindbare Differenzen zu haben gewesen" wäre.
Eine unglückliche Liebe. Solange sie nicht erwidert wird,
gefällt sich die "Gruppe dissident", wie schon ihre Vorbilder
von der DDR-Bürgerrechtsbewegung, in der wehleidigen Pose der
verfolgten Unschuld: immer belogen und betrogen, immer
ausgegrenzt und geschnitten, niemand mag sie, nie darf sie
richtig dazugehören, von allen wird sie fertiggemacht. Noch
mehr als von der Regierungsjugend fühlt sie sich verfolgt und
unterdrückt von Antideutschen und DKP-Kreisen. Der
DKP-Jugendorganisation AMS, von der sie sich einmal abspaltete,
wirft sie ausgerechnet das vor, was an ihr sympathisch war:
"Eine Massenorientierung halten sie zum jetzigen Zeitpunkt für
nicht realisierbar." (17)
Im Gegensatz natürlich zur "Gruppe dissident", die "alte Zöpfe"
abschneiden will, um "linke Politik - nicht nur an der Uni -
wieder vermehrt wahrnehmbar und attraktiv" zu machen(18). Ein besonders alter Zopf ist
der Wahrheitsanspruch: In Rage geraten Dissidenten dann, wenn
irgendwo zu viel und zu lange diskutiert wird. Der linke
Pluralismus darf nicht gefährdet werden - zu groß ist das
Risiko, sich von irgendetwas überzeugen zu lassen. Das könnte
zu Parteilichkeit führen, und davor muß man sich hüten. Eins
der liebsten Feindobjekte der Dissidenten ist nämlich die
"Parteijugend", was hierzulande, wo es keine Parteien gibt,
sondern nur Deutsche, besonders wohlfeil ist - man braucht nur
bei Theo Sommer oder Roman Herzog abzuschreiben. Natürlich
hindern ihre Vorbehalte gegen Parteien die "Gruppe dissident"
nicht daran, gemeinsam mit der PDS-HSG zu kandidieren oder sich
für einen AStA mit Jusos und Grünen zu bewerben. Aber
geschenkt. Es geht um Antikommunismus und um die Kumpanei mit
der Mehrheit, die genau wie man selber so bleiben darf, wie sie
ist, und vor dogmatischen Zumutungen geschützt werden muß.
Deshalb laufen Mitglieder der "Gruppe dissident" zur Höchstform
auf, wenn irgendwo antideutsche Plakate gegen die
antisemitische Internationale hängen, die man abreißen und auf
denen man herumtrampeln kann. Vielleicht ist es das, was die
"Gruppe dissident" unter ihrem "Politikstil" versteht: immer
"andersdenkend, von der herrschenden Meinung abweichend"(19). Doch keine Sorge. Die
"Gruppe dissident" hält "trotz aller Unkenrufe von Teilen der
Marburger universitären Linken" an dem "Traum von einer Sache"
fest(20): in den AStA
gewählt zu werden.
(1) http://www.marbuch-verlag.de/marbuch
(2) Der Wortlaut seines
Briefes: Sehr geehrter Herr Becker, für Ihre politische
Aufklärungsarbeit, die notwendig ist, sage ich Ihnen meine
Unterstützung. Was Sie tun, muss in einer Demokratie möglich
sein, Polizei und Gerichte dürfen dazu nichts zu sagen haben.
In politischer Verbundenheit - H. Hofer.
(3) "Offensichtlich
durchgeknallt". Wie Marburg die Meinungsfreiheit eines
Antisemiten verteidigt, in: Sputnik Nr. 2
(4) Nach
dem Krieg ist vor dem Krieg. Imperialistisches Kräftemessen vor und nach dem
Irakkrieg, in: Sputnik Nr. 2
(5) "Offensichtlich
durchgeknallt".
(6) Siehe http://www.verbindungen-kappen.de.vu
(7) Presseerklärung des
"Antifaschistischen Ratschlags", 2000.
(8) Alle Jahre wieder ...
Der Marktfrühschoppen, Flugblatt, 2000.
(9) Kulturbeben,
September 2002.
(10) Presseerklärung
des "Marktfrühschoppenvereins", 2002.
(11) FR, 18.6.2003.
(12) http://www.verbindungen-kappen.de.vu
(13) Ebd.
(14) SZ, 23. 6.
2003.
(15) Gruppe dissident:
Den
Marktfrühschoppen kippen, Juni 2001 (alle Flugblätter der
Gruppe sind dokumentiert auf http://www.geocities.com/gruppe_dissident)
(16) Gruppe dissident:
Wir
kommen, um uns zu beschweren, Januar 2003
(17) Gruppe dissident:
Austrittserklärung
aus der AMS und Gründung der "Gruppe
dissident", 2000
(18) Wir
kommen, um uns zu beschweren ...
(19) Austrittserklärung
aus der AMS ...
(20) Wir
kommen, um uns zu beschweren ...
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