De Gaulle fiel. Manch einem war trüb zumut wie einem
Heineschen Grenadier; mir auch, mir auch. Nur leider, dass in
New York dem französischen UNO-Delegierten Armand Bérard nichts
besseres einfiel, als verzweifelt auszurufen (laut "Nouvel
Observateur" vom 5.Mai): "C'est l'or juif!" Und kein Dementi.
Rechter Hand, linker Hand alles vertauscht. Der Antisemitismus
schafft's und, wie es einst bei Stefan George hieß: "... er
reißt in den Ring."
Das klassische Phänomen des Antisemitismus nimmt aktuelle
Gestalt an. Der alte besteht weiter, das nenn ich mir
Koexistenz. Was war, das blieb und wird bleiben: der
krummnasige, krummbeinige Jude, der vor irgendwas - was sag
ich? - der vor allem davonläuft. So ist er auch zu sehen auf
den Affichen und in den Pamphleten der arabischen Propaganda,
an der angeblich braune Herren deutscher Muttersprache von
einst, wohlkaschiert hinter arabischen Namen, mitkassieren
sollen. Die neuen Vorstellungen aber traten auf die Szene
gleich nach dem Sechs-Tage-Krieg und setzen langsamerhand sich
durch: der israelische Unterdrücker, die mit dem ehernen Tritt
römischer Legionen friedliches palästinensisches Land
zerstampft. Anti-Israelismus, Anti-Zionismus in reinstem
Vernehmen mit dem Antisemitismus von dazumal. Der ehern
tretende Unterdrücker-Legionär und der krummbeinige Davonläufer
stören einander nicht. Wie sich endlich die Bilder
gleichen!
Doch neu ist in der Tat die Ansiedlung des als
Anti-Israelismus sich gerierenden Antisemitismus auf der
Linken. Einst war das der Sozialismus der dummen Kerle. Heute
steht er im Begriff, ein integrierender Bestandteil des
Sozialismus schlechthin zu werden, und so macht jeder Sozialist
sich selber freien Willens zum dummen Kerl.
Den Prozess kann man nutzbringend nachlesen in dem schon vor
mehr als einem Jahr in Frankreich bei "Pauvert" erschienenen
Buch "La Gauche contre Israel" von Givet. Es genügt aber auch,
gewisse Wegmarken zu erkennen, beispielsweise eine in der
Zeitschrift "konkret" erschienene Reportage zu lesen: "Die
dritte Front". "Ist Israel ein Polizeistaat?" heißt da ein
Zwischentitel. Die Frage ist nur rhetorisch. Natürlich ist
Israel das. Und Napalm und gesprengte Häuser friedlicher
arabischer Bauern und Araber-Pogrome in den Strassen von
Jerusalem. Man kennt sich aus. Es ist wie in Vietnam oder wie
es einstens in Algerien war. Der krummbeinige Davonläufer nimmt
sich ganz natürlich aus als Schrecken verbreitender
Goliath.
Es ist von der Linken die Rede und keineswegs nur von den
noch mehr oder minder orthodoxen kommunistischen Parteien im
Westen oder gar von der Politik der Staaten des Sozialistischen
Lagers. Für diese gehört der Anti-Israelismus, aufgepfropft auf
den traditionellen Antisemitismus der slawischen Völker, ganz
einfach zur Strategie und Taktik einer so und so gegebenen
politischen Konstellation. Die Sterne lügen nicht, die Gomulkas
wissen, worauf sie rechnen dürfen. C'est de bonne guerre!
Darüber ist kein Wort zu verlieren.
Schlimmer ist, dass die intellektuelle Linke, die sich frei
weiß von Parteibindungen, das Bild übernimmt. Jahrelang hat man
- um einmal von Deutschland zu reden - den israelischen
Wehrbauern gefeiert und die feschen Mädchen in Uniform. In
schlechter Währung wurden gewisse Schuldgefühle abgetragen. Das
musste langweilig werden. Ein Glück, dass für einmal der Jude
nicht verbrannt wurde, sondern als herrischer Sieger dastand,
als Besatzer. Napalm und so weiter. Ein Aufatmen ging durchs
Land. Jedermann konnte reden wie die "Deutsche National- und
Soldatenzeitung"; wer links stand, war befähigt, noch den
Jargon des Engagements routinemäßig zu exekutieren.
Fest steht: Der Antisemitismus, enthalten im
Anti-Israelismus oder Anti-Zionismus wie das Gewitter in der
Wolke, ist wiederum ehrbar. Er kann ordinär reden, dann heißt
das "Verbrecherstaat Israel". Er kann es auf manierliche Art
machen und vom "Brückenkopf des Imperialismus" sprechen, dabei
so nebstbei allenfalls in bedauerndem Tonfall hinweisen auf die
missverstandene Solidarität, die so ziemlich alle Juden, von
einigen löblichen Ausnahmen abgesehen, an den Zwergstaat
bindet, und kann es empörend finden, dass der Pariser Baron
Rothschild die Israel-Spenden der französischen Bevölkerung
Frankreichs als eine Steuer einfordert.
Der Antisemitismus hat es leicht allerwegen. Die emotionelle
Infrastruktur ist da, und das keineswegs nur in Polen oder
Ungarn. Der Antisemit "demystifiziert" den Pionierstaat mit
Wohlbehagen. Es fällt ihm ein, dass hinter dieser staatlichen
Schöpfung immer schon der Kapitalismus stand in Form der
jüdischen Plutokratie: Auf diese letztgenannte geht er nicht
ausdrücklich ein, das wäre ein ideologischer lapsus linguae,
jedoch - c'est l'or juif! - niemand wird sich täuschen über die
tatsächliche Bestelltheit eines Landes, das aus einer
schlechten Idee geboren, am schlechten Orte errichtet, einen
oder mehrere schlechte Kriege geführt und Siege erfochten
hat.
Missverständnisse sind nach Möglichkeit zu vermeiden. Ich
weiß so gut wie irgendwer und jedermann, dass Israel objektiv
die unerfreuliche Rolle der Besatzungsmacht trägt. Alles zu
justifizieren, was die diversen Regierungen Israels
unternehmen, fällt mir nicht ein. Meine persönlichen
Beziehungen zu diesem Land, von dem Thomas Mann in der
Josefs-Tetralogie gesagt hat, es sei ein "Mittelmeer-Land,
nicht gerade heimatlich, etwas staubig und steinig", sind quasi
null: Ich habe es niemals besucht, spreche seine Sprache nicht,
seine Kultur ist mir auf geradezu schmähliche Weise fremd,
seine Religion ist nicht die meine. Dennoch ist das Bestehen
dieses Staatswesens mir wichtiger als das irgendeines
anderen.
Und hiermit gelangen wir an den Punkt, wo es ein Ende hat
mit jeder berichtenden oder analysierenden Objektivität und wo
das Engagement keine freiwillig eingegangene Verbindlichkeit
ist, sondern eine Sache der Existenz, das Wort in mancherlei
Bedeutung verstanden.
Über Israel, den modischen Anti-Israelismus, den
altmodischen, aber stets in jegliche Mode sich wieder
einschleichenden Antisemitismus spricht existentiell subjektiv,
wer irgendwie "dazugehört" ("Juden, Personen, die im Sinne des
Reichsbürgergesetzes vom 15. September 1935 als Juden gelten")
- und erreicht am Ende vielleicht gerade darum eine
Objektivität annähernd naturrechtlichen Charakters. Denn
schließlich mündet noch die geistesschlichteste - genauso wie
die gründlichste und gescheiteste - Überlegung in die
Erkenntnis, dass dieses Pionierland, und mag es hundertmal nach
einer sich pervertierenden pseudomarxistischen Theologie im
Sündenstande technischer Hochentwicklung sich befinden, unter
allen Staaten dieses geopolitischen Raumes das gefährdetste
ist. Sieg, Sieg und nochmals Sieg: Es droht die Katastrophe,
und ihr weicht man auch nicht aus, indem man direkt in sie
hineinrennt und Israel zum Teilgebiet einer palästinensischen
Föderation macht.
Die arabischen Staaten, denen ich Glück und Frieden wünsche,
werden den israelischen Entwicklungsvorsprung einholen,
irgendeinmal. Ihr demographischer Überdruck wird das übrige
tun. Es geht unter allen Umständen darum, den Staat Israel zu
erhalten, so lange, bis Frieden, wirtschaftlicher und
technischer Vorausgang die Araber in einen allgemeinen
Gemütszustand versetzen, der ihnen die Anerkennung Israels
innerhalb gesicherter Grenzen gestattet.
Es geht darum. Wem? Die subjektive Verfassung, die zur
geschichtlichen Objektivität werden will, hat hier ihre
Dreinrede. Israels Bestand ist unerlässlich für alle Juden
("Juden, Personen, die im Sinne ..." und so weiter), wo immer
sie wohnen mögen. "Wird man mich zwingen, Johnson hochleben zu
lassen? Ich bin bereit dazu", rief am Vorabend des
Sechs-Tage-Krieges der linksradikale französische Publizist und
Sartre-Schüler Claude Lanzmann. Der wusste, was er meinte und
wollte. Denn jeder Jude ist der "Katastrophen-Jude", einem
katastrophalen Schicksal ausgeliefert, ob er es erfasst oder
nicht. "Lauf, blasser Jude" schreiben die Black-Panther-Männer
an die Geschäfte und Häuser jüdischer Händler in Harlem und
vergessen leichten Herzens die alte Allianz, die in den USA den
Juden an den Neger kettete und die noch der mieseste
bürgerlich-jüdische Händler nicht verriet.
Wer garantiert, dass nicht einmal eine Regierung in den
Vereinigten Staaten zum großen Versöhnungsfest den Juden dem
Neger zum Fraß hinwirft? Wer verbürgt den einflussreichen und
zum Teil reichen Juden Frankreichs, dass nicht eines Tages das
Erbe der Drumont, Maurras, Xavier Vallat zu neuer Virulenz
gelangt? Wer steht ein dafür, dass nicht Herrn Strauss, an die
Macht gekommen, irgendwas einfällt, worauf dann auch ein
gewisser Zeitungs-Tycoon sich hüten würde, weitere schnöde
Spenden einer schnöde zur Annahme bereiten israelischen
Regierung zu geben? Niemand garantiert nichts. Das ist keine
paranoide Phantasie und ist mehr als die menschliche
Grundverfassung der Gefahr. Die Vergangenheit, die
allerjüngste, brennt.
Und nun wird jeder Freund von der Linken mir sagen, auch ich
reihte mich ein in die große Armee derer, die mit sechs
Millionen (oder meinetwegen fünfen oder vieren) Ermordeter
Meinungserpressung treiben. Das Risiko ist einzugehen: Es ist
geringer als das andere, welches die Freunde mir proponieren,
wenn sie für die Selbstaufgabe des "zionistischen" Israel
plädieren.
Die Forderung der praktisch-politischen Vernunft geht dahin,
dass die Solidarität einer Linken, die sich nicht preisgeben
will (ohne dass sie dabei das unerträgliche Schicksal der
arabischen Flüchtlinge ignorieren muss), sich auf Israel zu
erstrecken, ja, sich um Israel zu konzentrieren hat. Das Gebot
hat für den nichtjüdischen Mann der Linken nicht die gleiche
Verbindlichkeit wie für Juden, stehe dieser politisch links,
mittwegs, rechts oder nirgendwo. Aus der Linken kann man
austreten; das Sosein als Jude entlässt niemand, das wusste
schon ein Früh-Antisemit wie Lanz-Liebenfels. Freilich hat die
Linke ihre ungeschriebenen moralischen Gesetze, die sie nicht
beugen darf. "Wo es Stärkere gibt, immer auf der Seite des
Schwächeren", welch unüberschreitbar wahre Trivialität! Und
stärker - wer wagte Widerrede? - das sind die Araber; stärker
an Zahl, stärker an Öl, stärker an Dollars, man frage doch bei
der Aramco und in Kuwait nach, stärker, ganz gewiss, an
Zukunftspotential.
Die Linke aber ganz offensichtlich schaut wie gebannt auf
die tapferen palästinensischen Partisanen, die freilich ärmer
sind als die Männer Moshe Dayans. Sie sieht nicht, dass trotz
Rothschild und einem wohlhabenden amerikanisch-jüdischen
Mittelstand der Jude immer noch schlechter dran ist als Frantz
Fanons Kolonisierter, sieht das so wenig wie das Phänomen des
anti-imperialistischen jüdischen Freiheitskampfes, der gegen
England ausgefochten wurde. Am Ende ist es auch nicht die
Schuld der Israelis, wenn die Sowjetunion vergaß, was 1948 vor
der UNO Gromyko mit schönem Vibrato vorgetragen hat: "Was den
jüdischen Staat betrifft, so ist seine Existenz bereits ein
Faktum, das gefalle oder nicht (...) Die Delegation der UdSSR
kann sich nicht enthalten, ihr Erstaunen über die Einstellung
der arabischen Staaten in der palästinensischen Frage
auszudrücken. Ganz besonders sind wir überrascht zu sehen, dass
diese Staaten oder zumindest einige von ihnen sich entschlossen
haben, militärische Maßnahmen zu ergreifen mit dem Ziele, die
nationale Befreiungsbewegung der Juden zu vernichten. Wir
können die vitalen Interessen der Völker des Nahen Ostens nicht
identifizieren mit den Erklärungen gewisser arabischer
Politiker und arabischer Regierungen, deren Zeugen wir jetzt
sind."
So sprach, wie schon gesagt, die Sowjetunion, eine
Großmacht, die Großmachtpolitik treibt und die wohl a la longue
nicht absehen konnte von dem offenbaren Faktum, dass es mehr
Araber gibt als Juden, mehr arabisches Öl als jüdisches, dass
militärische Stützpunkte in den arabischen Staaten einen
höheren strategischen Wert haben als in Israel. Die Linke im
weiteren und weitesten Sinne aber, und ganz besonders die
protestierende äußerste Linke, der ich mich auf weiten Stecken
verbunden weiß, hat diese Grossmacht-Ausflucht nicht. Sie ist,
nach dem Gesetz, nach dem sie angetreten, zur Einsicht
verpflichtet; zur Einsicht in die tragische Schwäche des
jüdischen Staates und jedes einzelnen Juden in der Diaspora,
zur Einsicht in das, was hinter den Kulissen eines
jüdisch-bürgerlichen Mittelstandes, hinter dem Mythos des Geld-
und Gold-Juden (vom Jud Süß bis zu den kontemporären
Rothschilds und ein paar jüdischen Hollywood-Größen) sich
verbirgt. Die Juden manipulieren zeitweilig Kapitalien: Sie
beherrschen sie niemals. Sie haben heute in Wall Street so
wenig zu sagen wie einst im wilhelminischen Deutschland in der
Schwerindustrie.
Der Staat Israel ist heute so wenig ein Bollwerk des
Kapitalismus, wie er es war, als die ersten Pioniere dort den
Boden umgruben, so wenig wie die arabischen Staaten
vernünftigerweise als progressiv angesehen werden können. Die
Linke macht, das ist der Jammer, die Augen zu. Der Zufall
spielte mir gerade einen Text von Hans Blüher zu: "Eine
wirkliche Geschichte Europas dürfte nicht so geschrieben
werden, wie das bisher geschah, dass nämlich ein Jude einmal
hie und da anekdotenhaft vorkommt ..., vielmehr müsste die
Darstellung so sein, dass dauernd die geschichtliche Macht des
Judentums als eines latenten und ständig mitspielenden Reiches
sichtbar wird." Der Text könnte wörtlich in einer der
zahlreichen pseudointellektuellen arabischen Veröffentlichungen
stehen, mit denen die Presse überschwemmt wird. Und von Blüher
- aber auch von Streicher, denn allerwegen ebnet der
Antisemitismus die intellektüllen Höhenunterschiede ein -
könnte stammen, was der Unterrichtsminister des progressiven
Staates Syrien an den Generaldirektor der UNESCO schrieb: "Der
Hass, den wir unseren Kindern einprägen, ist ein heiliger
Hass." Es wäre das alles kaum der Aufnotierung wert, und der
närrische Blüher könnte im Frieden des Vergessens schlafen,
hätte nicht die intellektuelle Linke Westeuropas
(einschließlich übrigens einiger vom Selbsthass verstümmelter
Juden wie Maxim Rodinson) sich dieses Vokabulars bemächtigt und
das vom Wortschatz vermittelte Normensystem angenommen.
Wenn aus dem geschichtlichen Verhängnis der Juden-
beziehungsweise Antisemitenfrage, zu dem durchaus auch die
Stiftung des nun einmal bestehenden Staates Israel gehören mag,
wiederum die Idee einer jüdischen Schuld konstruiert wird, dann
trägt hierfür die Verantwortung eine Linke, die sich selber
vergisst. "Der Antizionismus ist ein von Grund auf reaktionäres
Phänomen, das von den revolutionären progressistischen
antikolonialistischen Phrasen über Israel verschleiert wird",
sagte neulich Robert Misrahi, ein französischer Philosoph, der,
gleich dem vorhin zitierten Claude Lanzmann, zur weiteren
Sartre-Familie gehört.
Der Augenblick einer Revision und neuen geistigen
Selbstbestreitung der Linken ist gekommen; denn sie ist es, die
dem Antisemitismus eine ehrlose dialektische Ehrbarkeit
zurückgibt. Die Allianz des antisemitischen
Spießer-Stammtisches mit den Barrikaden ist wider die Natur,
Sünde wider den Geist, um in der vom Thema erzwungenen
Terminologie zu bleiben. Leute wie der polnische General Moczar
können sich die Umfälschung des kruden Antisemitismus zum
aktuellen Anti-Israelismus gestatten: Die Linke muss redlicher
sein. Es gibt keinen ehrbaren Antisemitismus. Wie sagte Sartre
vor Jahr und Tag in seinen "Überlegungen zur Judenfrage": "Was
der Antisemit wünscht und vorbereitet, ist der Tod des
Juden."
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